Sorgeaufwand für Eltern

Unlägst habe ich folgenden Text auf social Media gefunden:

Mein liebes Kind,

An dem Tag, an dem du mich alt werden siehst, bitte ich dich, geduldig zu sein, aber vor allem zu versuchen, zu verstehen, was ich durchmache.

Wenn ich das Gleiche tausendmal wiederhole, unterbreche mich nicht, indem du sagst: „Du hast bereits vor einer Minute dasselbe gesagt“ …

Höre einfach zu.

Und erinnere dich an die Zeit, als du klein warst und ich Abend für Abend dieselbe Geschichte gelesen habe, bis du eingeschlafen bist.

Sei mir nicht böse, wenn ich mich nicht waschen will und bring mich nicht in Verlegenheit.

Erinnerst du dich, als du klein warst und ich dir nachlaufen musste, um dich zum Duschen zu bringen?

Wenn du siehst, wie unwissend ich bin, wenn es um neue Technologien geht, gib mir Zeit zum Lernen und sieh mich nicht so an.

Erinnere dich, wie ich dir jeden Tag geduldig viele Dinge beigebracht habe, wie zum Beispiel: wie man sich alleine anzieht oder wie man Fahrrad fährt.

An dem Tag, an dem du mich alt werden siehst, bitte ich dich, geduldig zu sein, aber vor allem zu versuchen, zu verstehen, was ich durchmache.

Wenn ich vorübergehend den Überblick verliere, worüber wir sprechen, gib mir Zeit, mich zu erinnern und wenn ich das nicht kann, werde nicht nervös, ungeduldig und launisch. Du sollst wissen, dass es für mich das Wichtigste ist, bei dir zu sein.

Und wenn mich meine alten, müden Beine nicht mehr so schnell gehen lassen, gib mir deine Hand, so wie ich dir meine Hand gereicht habe, als du zum ersten Mal gelaufen bist.

Wenn dieser Tag kommt, an dem ich gehen muss, sei nicht traurig … sei einfach bei mir und sei geduldig mit mir, während ich die Reise zum Ende meines Lebens antrete. Ich schätze die gemeinsame Zeit mit dir sehr, in der mir Freude und Liebe immer am wichtigsten waren. Du bist mein kostbarstes Geschenk!

Mit einem breiten Lächeln und all der Liebe, die ich immer für dich seit deiner Geburt für dich empfinde, möchte ich nur sagen: Ich liebe dich, mein geliebtes Kind!

(Ein bewegender Brief einer Mutter an ihr Kind.)

Anmerkungen zu diesem Brief einer Mutter.

  1. Hat die Mutter diesen Brief geschrieben, oder entstammt er der Phantasie der Tochter?
  2. Wann hat die Mutter diesen Brief geschrieben?
    * zu einem Zeitpunkt, als sie noch ganz ohne kognitive Defizite gelebt hat und darüber nachgedacht hat, wie es sein würde, sollte sie künftig an Demenz erkranken? oder

    * als sie den Beginn kognitiver Defizite bereits gespürt hat? oder

    *als sie geistig noch gesund war, aber in unmittelbarer Nähe miterlebt hatte, wie die geistigen Kapazitäten bei einer anderen Person geschwunden sind?

3. Ich frage mich,

* Beschreibt der Text wirklich den Wunsch der Mutter, den sie haben wird, wenn bei ihr der geschilderte Zustand eintreten wird, oder

* wird sie dann bei aufrichtiger Liebe zur Tochter, ihr ihren Alltag lassen wollen, ohne ihn durch Krankheit oder durch das Verlangen der Mutter ständig zu stören.

4. Die Mutter darf sich wünschen, dass sich die Tochter in dieser oder jener Art und Weise verhalten wird.

Sie ist aber definitiv nicht berechtigt „einzufordern“ was ihr die Tochter ihrer Meinung nach schuldig wäre? Die Mutter hat das Kind auf die Welt gebracht, und sie hatte deshalb die PFLICHT ihr Kind so lange zu unterstützen, als es noch nicht eigenständig lebensfähig war. Dass ein Neugeborenes in den Nächten weint, der Mutter Kräfte abverlangt und Kinder den Eltern auch sonstige Erschwernisse (emotionale, finanzielle, kräftemäßige etc.) verursachen, ist ganz normal und natürlich. Das sollten sich Eltern überlegen, ehe sie ein Kind zeugen bzw. in die Welt und damit in ihr Leben bringen.

Kinder hingegen haben gegenüber ihren Eltern eine solche Pflicht nicht mehr im selben Ausmaß. Denn Kinder dürfen und werden beim Bestimmen des Sorgeaufwandes gegenüber Eltern durchaus jenes Verhalten mitbeurteilen und miteinfließen lassen, welches die Eltern ihnen bisher entgegengebracht haben.

5. Was in diesem Brief mit einer Bitte beginnt, geht sehr bald in eine Anweisung über (unterbreche mich nicht), um zu einem Befehl zu werden (Hör einfach zu). Verstärkt wird dieser Befehlston dann noch, indem die Mutter eine scheinbare Verpflichtung (moralischer Art) postuliert. (Erinnere Dich, wie ich Dir jeden Tag geduldig viele Dinge beigebracht habe …),

Dieser Brief zeugt in meinen Augen von grenzenlosem Egoismus der Mutter.