Wer kennt sie nicht, die unberechtigten Beschwerden und Anschuldigungen von Angehörigen über Pflegepersonal, Ärzte und gegen den Betreiber eines Pflegeheimes? Sie stören das Arbeitsklima und gefährden den Ruf des Hauses. Aus meiner langjährigen Tätigkeit als Geriater, Palliativmediziner und als Gerichtssachverständiger u.a. für Pflegewesen weiß ich: Jeder unberechtigte Vorwurf hat Ursachen, die nicht beim „Beschuldigten“ zu suchen sind.
In diesem Beitrag geht es nicht um Beschwerde-Management von konstruktiver Kritik und nicht um die wenigen, tatsächlichen und offensichtlichen Verfehlungen. Hier geht es um unberechtigte Beschwerden und ihre Ursachen, die seit den durch Corona bedingten Besuchseinschränkungen deutlich zugenommen haben. Für alle gilt vorab: Nicht die Institution, nicht Ärzte, nicht die Pflege und auch nicht die Qualität des Essens sind „schlecht“, sondern der „schlechte“ Gesundheitszustand des/der pflegebedürftigen Angehörigen ist die Ursache für unberechtigte Beschwerden. Deshalb ist es notwendig, Angehörigen den aktuellen Gesundheitszustand der betroffenen Person durch einen Arzt offen, ehrlich, ausführlich und ungeschönt zu erklären sowie auch die möglichen Prognosen zu diskutieren.
Als Gerichtssachverständiger ist man immer auch bemüht, den Streit zwischen den Parteien zu schlichten. Mit jedem Gutachtensauftrag übernimmt man gleichzeitig eine gewisse Mediationstätigkeit, die den beiden Parteien aber auch dem Gericht zugutekommt, das seine Entscheidung auf den vom Sachverständigen gelieferten Grundlagen treffen muss. Das trifft auch zu, wenn Gutachter Angehörigen den medizinischen Ist-Zustand der betroffenen Person darlegen, wie das ja im Rahmen der Befundaufnahme geschieht. Erst dann können alle Beteiligten ihre Argumente auf dieselbe, realistische Basis aufsetzen.
Erfahrungsgemäß lassen sich bei unberechtigten Beschwerden drei Gruppen von Ursachen unterscheiden. Die Zuordnung der Beschwerde zu einer Gruppe macht die Beschwerde zwar auch nicht weniger unangenehm, oder leichter verkraftbar. Sie verkürzt aber den Weg zum Ende der Meinungsverschiedenheiten. Die folgenden Beispiele sollen die Vielfalt an Ursachen für Unzufriedenheit von Angehörigen aufzeigen und zugleich unterstreichen, dass jeder Fall individuell zu behandeln ist.
Unzufriedenheit mit der eigenen Situation
Das ist die mit Abstand am weitest verbreitete Ursache für Vorwürfe. Ein Gefühl der Ohnmacht oder der Hilflosigkeit, was kommt noch alles auf mich (uns) zu (fehlende Perspektive), das eigene Leben wegen einer pflegebedürftigen Person einschränken müssen, die Realität nicht wahr haben oder akzeptieren können oder wollen, die Rollenumkehr bezüglich Fürsorgeauftrag Eltern – Kind nicht verkraften können, oder Angst die Mutter oder den Vater zu verlieren, sie alle führen oft zu Verdrossenheit mit der eigenen Situation. Das sind auch die häufigsten Ursachen für ungerechtfertigte Beschwerden durch Angehörige – z.B. medizinisch oder pflegerisch etwas versäumt zu haben.
Schlechtes Gewissen
Gar nicht so selten plagt Angehörige – meist sogar unbewusst – das schlechte Gewissen, dem heute Pflege- und Betreuungsbedürftigen „etwas schuldig geblieben“ zu sein. Hierher gehört auch eine Kind-Eltern Beziehung, die in der Vergangenheit mit mehr oder minder großen Spannungen belastet war. Deshalb kann für diese Angehörigen heute nichts „gut genug“ gemacht werden. Fehlende Empathie, zu wenig Zuneigung, keine persönliche Zuwendung, zu wenig oder gar schlechte Pflege und nicht zuletzt „schlechte Kost“ sind von diesen Angehörigen oft gehörte Beschwerden.
Familienzwist
Beim Streit unter Geschwistern, geht es um ungleiche, erbrachte Leistungen (zB pflegende bzw. nicht-pflegende Angehörige), oder auch um „Neid“, weil der Bruder, die Schwester oder ein Lebenspartner der rechtliche Vertreter (Bevollmächtigter, Betreuer, Erwachsenenvertreter etc.) ist und damit vermeintlich mehr Information über die/den Patient*in bekommt. Die Zahl von derart verärgerten Geschwistern ist im Steigen, weil sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen sowohl für Ärzte als auch für Spitals- und Pflegeheimbetreiber geändert haben (Stichwort: Datenschutz). Wofür der eine „neidig“ ist, das würde der „Beneidete“ gerne abgeben, sobald er seine Zustimmung oder Ablehnung einer medizinischen Maßnahme mit seinem Gewissen vereinbaren muss (zB PEG-Sonde). Gelegentlich findet sich in dieser Gruppe auch ein „vorverlegter“ Erbschaftsstreit als Ursache. Von dieser Gruppe hört man schon Klagsdrohungen und Klagen bei Gericht.
Lösungsvorschläge für Institutionen bei unberechtigten Beschwerden
Jede unberechtigte Beschwerde ist auch Ausdruck eines geriatrischen Informationsdefizits, das es primär auszugleichen gilt.
Präventiv für Pflegeheime empfehlen sich Vorträge für Angehörige mit obigen Inhalten, ergänzt mit Realitäten in der Geriatrie und Palliativmedizin. So lassen sich Informationsdefizite von Angehörigen zumindest auf allgemeiner Basis ausgleichen. Noch bevor sie unberechtigte Vorwürfe erheben, erkennen Angehörige wo Ursachen für Probleme liegen können; sie hören welche Probleme weit verbreitet sind und erkennen sich darin wieder. Zugleich werden Angehörige zum Dialog ermuntert.
Pflegeheime und Pflegepersonalvermittler können das Beschwerdemanagement dem Pflegepersonal vor Ort überantworten, wenn sich der Vorfall mit einer Entschuldigung oder mit Reparatur/Ersatz bereinigen lässt. Kommt bei schwerwiegenderen Vorfällen aber eine eigene Beschwerdeinstanz zum Einsatz, wird der Beschwerdeführer immer das Gefühl haben, dass er sich dem Urteil eines parteiischen „Schiedsrichters“ beugen musste. Aber die wahre Ursache für die unberechtigte Beschwerde konnte wahrscheinlich auch hier nicht ausgeräumt werden. Wer einem Pflegekunden oder seinem Angehörigen einen echten Mehrwert – auch für die Zukunft – bieten will, kann einen objektiven, externen Arzt mit praktischem know-how aus Geriatrie und Palliativmedizin zum Einsatz bringen. So zeigt die Institution Kompetenz und hebt sich damit positiv von Mitbewerbern ab.
Streitbeilegung im (Alten)Pflegebereich
Um Ursache(n) einer vorgetragenen Beschwerde möglichst zeitnah und nachhaltig zu analysieren und zu beheben empfehle ich Coaching für Angehörige. Dabei erfahren sie, was bei ihrem „Pflegefall“ medizinisch möglich und therapeutisch sinnvoll ist. Das Verhalten und Empfinden ihres an Demenz erkrankten Elternteils wird erklärt (Kenntnisse die der Gerichtssachverständige einsetzt, um den „mutmaßlichen“ Patientenwillen zu ermitteln, wenn keine (eindeutige) Patientenverfügung vorliegt). In einem speziell entwickelten 1-Tages-Workshop helfe ich mit „mäeutischem Coaching gegen care-Stress“ Probleme zu lösen, Perspektiven zu erkennen und Spannungen abzubauen. Das Coaching eignet sich für Angehörige die frühzeitig für den Umgang mit alternden Eltern Hilfe suchen. Aber auch für Angehörige, bei denen absehbar ist, dass wiederholt divergierende Meinungen zu einem Streit eskalieren können. Im 1:1 Coaching fließen individuelle Parameter von der alternden Person wie auch vom Angehörigen ein.
Bevor man wirklich vor Gericht zieht
Jeder Streit – bei dem es um einen pflegebedürftigen, alten Menschen geht – lässt sich mit dem schriftlichen Gutachten eines unabhängigen, externen Sachverständigen so gut wie immer beilegen. Ein Gutachtensauftrag ist noch spezifischer und präziser als ein Coaching. Er umfasst die zu beantwortenden Fragen und gibt vor, welche Unterlagen dafür zu verwenden sind (Befunde, Krankenakte, Untersuchung des Patienten, etc.). Gutachten sind objektiv, vollständig und schlüssig, sodass sie auch von beiden Parteien als Argumentationshilfe und vom Betreuer zur Entlastung des eigenen Gewissens eingesetzt werden können.
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