In wohl keinem anderen medizinischen Fach wäre es legitim, wenn Ärzte ihre diagnostische Tätigkeit einschränken oder sogar gänzlich einstellen, zugunsten eines therapeutischen Bereiches. Das heißt, sie würden sich nicht (mehr) mit Diagnostik beschäftigen, obwohl der Patient Beschwerden hat. In der Geriatrie sehe ich eine solche Trennung aber nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar unumgänglich.
In der Geriatrie steht am Ende diagnostischer Prozesse oft die Erkenntnis, dass Veränderungen vorliegen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Das kann z. B. sein: Abnützungserscheinung (an Knorpeln, Knochen und Gelenken), chronische Krankheit(en), atherosklerotische Veränderungen der Gefäße, degenerative Veränderungen an verschiedenen Organen (z. B. Augen, Geschmackspapillen, Haut etc.), Demenzen oder auch unheilbare Krankheiten. Ab jetzt geht es nicht mehr um „Diagnose stellen“ oder um „Ursachen finden“ sondern um ein Handeln (= Behandeln), das dem Patienten, Angehörigen und Pflegenden Nutzen bringt. Bei einem nicht mehr besserungsfähigen Zustand (z. B. Demenz) ist es weder für den Patient noch für dessen Angehörige oder für das Pflegepersonal wichtig was die Ursache war – weil das therapeutisch ja auch gar keinen Unterschied macht. Ob die Demenz bei diesem Patient als Restzustand einer Meningo-Encephalitis zurückgeblieben ist, ob sie durch ein Schädel-Hirn-Trauma ausgelöst wurde, ob es sich um eine Demenz vom Alzheimer-Typ, um eine atheriosklerotische Demenz oder um die Spätfolgen eines chronischen Alkoholismus handelt – es ist für den nicht mehr besserungsfähigen Zustand „Demenz“ aber auch für Patient, Angehörige und Therapiewahl völlig unbedeutend.
Jetzt kommt es also nicht mehr auf Diagnostik an – auch nicht wenn sie noch so viele Ärzte wiederholen, sondern auf die Behandlung. Sehr genau wissend, dass die Behandlung nicht mehr zur Verbesserung der gesundheitlichen Veränderung führen wird. Keine Operation, kein Medikament, kein Gedächtnistraining, keine physio-, ergo-, musik- oderverhaltenstherapeutische Maßnahme wird die Demenz „bessern“ oder gar zum Verschwinden bringen können. Dennoch aber kann entsprechendes geriatrisch-therapeutisches Handeln – ohne weitere Diagnostik – für alle Beteiligten ein deutliches „Plus an Lebensqualität“ bringen.
Das Gleiche, nämlich dass Differenzialdiagnostik überflüssig ist, gilt für viele andere Krankheiten im höheren Alter. Stellvertretend seien Gelenksdeformationen genannt, die man unschwer mit einem Blick erkennen kann. Es ist zwar von größter Bedeutung dass der Patient keine Schmerzen leidet, aber es ist wirklich nebensächlich ob Rheuma, Vitaminmangel, Gicht oder andere degenerative Prozesse die ursprüngliche Ursache(n) für die schon seit vielen Jahren verformten Gelenke waren. (vgl. mein Artikel Wegweiser)
Tipp: Es macht keinen Sinn nach Ursachen zu suchen, nach deren Beseitigen alles wieder gut wäre, denn solche Ursachen gibt es nicht.