Am 7.10.14 wurden geplante Änderungen des BPGG bekannt – eine eigenartige „Reform“. Nachdem der Zugang 2011 zu Stufe 1 von 50 auf 60 Stunden und zu Stufe 2 von 75 auf 85 h/Mo erhöht wurde, soll ab 2015 der Zugang nochmals erschwert werden, u.zw. zu Stufe 1 von 60 auf 65 und zu Stufe 2 von 85 auf 95 Betreuungsstunden pro Monat. (BPGG § 4 Abs. 2).
Die Erwartung daraus: im Jahr 2015 sollen anstatt 71.000 nur 65.000 neue Pflegegeldbezieher hinzukommen. Es geht also um 6.000 Personen, die auch Stufe 1 nicht mehr bekommen werden. Man nimmt diesen 6.000 Menschen ab 2015 etwas weg, was ihnen 2014 noch zugestanden ist. Das heißt für mich aber nicht „eingespart“. Einsparen sollte man bei Ausgaben die nicht den Pflegebedürftigen zugute kommen, obwohl das Geld für diese Ausgaben auch für die Pflegebedürftigen bereit gestellt wurde. Z.B. 12 Mio. Euro im Jahr für 58.000 Anträge die abgelehnt werden müssen, weil gesetzliche Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Dieses Geld könnte man einsparen, ohne jemandem etwas wegzunehmen. Im Zuge einer echten Reform würde man draufkommen, dass das gar nicht so schwer umzusetzen ist.
Abseits volkswirtschaftlicher Auswirkungen stellen sich für mich einige Fragen.
Wie viele Pflegegeldbezieher der Stufe 1 gibt es insgesamt, deren Pflegebedarf zwischen 60,5 und 65 Stunden pro Monat liegt? Nach meinem Verständnis müssten ja alle 6.000 Pflegegeldwerber die von den negativen Auswirkungen betroffen sind, genau in diese Bandbreite fallen. Weil gutachtenstechnisch eine pflegestufenrelevante Differenz von 5 h/Mo in Stufe 1 kaum zu erreichen ist, wird das tatsächliche Ergebnis der „Reform“ erst aus der Statistik für 2015 abzulesen sein.
Für mich ist auch unverständlich was Seniorenverbände von SPÖ und ÖVP an dieser Reform gut finden. Einer „Reform“ die nur den Zugang verschärft und Erhöhung der Geldwerte erst ab 2016 verspricht, und zwar in Stufe 1 um € 3,10 pro Monat und in Stufe 2 um € 5,70 pro Monat mehr. Diese Summen konnten auch nicht verhindern, dass die angekündigten Neuerungen sonst quer durch alle politischen Parteien und Institutionen (Rechnungshof, Behindertenanwalt) nur Ablehnung und sogar Entrüstung auslösten (http://kurier.at/politik/inland/viel-kritik-fuer-mini-reform-bei-der-pflege/89.834.850; aber auch: http://www.parlament.gv.at/PAKT/AKT/SCHLTHEM/SCHLAG/365Pflegegeld.shtml).
Inzwischen ist die kontraproduktive Wirkung bestimmt schon merkbar: Um noch in die „alte“ Regelung zu fallen, werden heuer noch viele „versuchen wir’s halt“-Anträge auf Zuerkennung bzw. auf Erhöhung der Pflegestufe eingehen. http://www.krone.at/Ombudsfrau/Hoehere_Pflegegeld-Huerde_Verein_hilft_bei_Antrag-Krone-Ombudsfrau-Story-422549. Dass aber jeder solche „Versuch“ das System mit ca. € 200,– belastet, habe ich schon an anderen Stellen beschrieben.
Im Gesetzesentwurf findet sich noch eine interessante, bislang eigentlich noch nicht kommentierte Neuerung. „Online Informationsangebote“. „Die Website www.pflegedaheim.at soll pflegebedürftigen Personen und deren pflegenden Angehörigen zielgerichtete Auskünfte und Informationen zu Themen der Pflege und Betreuung zur Verfügung stellen“ [BPGG § 33d. (1)].
Das verfehlt meines Erachtens völlig das Ziel für Pflegebedürftige oder für deren pflegende Angehörige etwas zu tun – oder dieses Ziel war gar nicht angepeilt. Denn nur ganz selten sind es die pflegebedürftigen Personen selbst, die Informationen im Internet suchen. Und jene die noch selbst dazu imstande sind, hat der Hr. Minister ohnehin schon von Pflegestufe 1 ausgeschlossen. Bleiben noch deren pflegende Angehörige. Die haben wiederum keine Zeit und meist auch nicht die technischen Fertigkeiten für Internet-Recherchen. Alte, chronisch kranke, pflegebedürftige Personen mit einer noch so gut gewarteten Website abzuspeisen kann ich auch nicht als Reform sehen. Für mich klingt es sogar verhöhnend pflegende Angehörige – die schwerste körperliche Arbeit leisten und psychischen Belastungen ausgesetzt sind – mit einer Website vor dem burn-out bewahren zu wollen. Oder sollte der beabsichtigte Relaunche einer bestehenden Website die staatliche Anerkennung für all jene darstellen, die „kostenlos“ Sozial- und Pflegeleistungen erbringen, die eigentlich dem Staat zufallen könnten?
Wenn das Sozialministerium pflegenden Angehörigen tatsächlich helfen möchte – was notwendig und sehr zu begrüßen wäre – müssten etwas ernstere Gedanken in eine echte Reform investiert werden.
Es sind meist Kinder oder Enkelkinder von pflegebedürftigen Personen – jene, die Pflege und deren Finanzierung organisieren – die Informationen über Finanzielles (Zuschüsse, Förderungen, Pflegegeld) suchen. Diese (weil meist nicht-pflegenden) Angehörigen brauchen keine Auskünfte zu Themen der Pflege und Betreuung (s.o.) sondern sie wollen wissen welche Möglichkeiten es zur Entlastung von pflegenden Angehörigen gibt – was laut Gesetzesentwurf in einer (anderswo?) online abzurufenden Servicedatenbank zu finden sein soll. Dort werden Bürger umfassende Informationen zu Alten- und Pflegeheimen in Österreich, zu den bestehenden Angeboten mobiler sozialer Dienste und zu zahlreichen anderen Einrichtungen der sozialen Landschaft Österreichs bekommen [BPGG § 33e. (1)]. Wann diese Datenbank allerdings online sein wird und welche Daten sie genau enthalten wird, steht nicht im Entwurf.
Nun aber zu eigenen Reformgedanken – das Pflegegeldgesetz betreffend.
Wer – wie ich – das Pflegegeldsystem von der Basis her kennt, der weiß dass es genügend Ansatzpunkte für effiziente und notwendige Reformen gibt. Ob die Umsetzung solcher Reformen aber gewollt und möglich ist, kann nur sagen wer das System von innen kennt – und zu denen kann ich mich nicht zählen.
Deshalb gehe ich mit Vorschlägen erst gar nicht ins Detail, sondern stelle vorab nur folgende Frage: Möchte auch die Politik der Auffassung der Gerichte folgen, dass Pflegegeld nicht der Einkommenserhöhung der pflegebedürftigen Person dient, sondern eine zweckgebundene Leistung zur Abgeltung von Mehraufwendungen für eine behinderungsbedingte Pflege ist (Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld (2013) Rz 11). Oder ist es dem Staat lieber, weil „billiger“, nur einem geringen Teil der „Mindestpensionisten“ dadurch das Überleben zu ermöglichen, dass ihnen (erst über Antrag) Pflegegeld gewährt wird, anstatt die Mindestpensionen auf ein Maß anzuheben, das für alle Empfänger menschenwürdiges Überleben (auch im Winter) gewährleistet.
Wenn also seitens der Politik die ehrliche Absicht besteht, Reformen zu beginnen, schlage ich vor rein finanziell maßgebliche Komponenten (Einsparungen) von Maßnahmen zu unterscheiden, die nicht nur aus Kostengründen sondern auch deshalb umzusetzen sind, weil sie Missstände beseitigen, die zu Recht Unmut in der Bevölkerung hervorrufen.
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