Richter haben die Aufgabe Urteile zu fällen. Für spezielle Sachfragen brauchen sie Entscheidungsgrundlagen, also holen sie Gutachten ein. Üblich ist dabei das Untermauern gutachterlicher Aussagen durch Studien, sodass Richter die Seriosität der ihnen zugelieferten Grundlagen prüfen können.
Weitaus weniger verständlich ist für mich die „Studiengläubigkeit“ von Ärzten, deren Aufgabe es ist, Krankheiten zu diagnostizieren, zu heilen und Leiden zu lindern. Sie müssten aufgrund ihres bisherigen Wirkens und ihrer Fachkompetenz wissen, dass dabei auf Studien kein Verlass sein kann, und kein Verlass ist. Krankheiten halten sich nämlich ebensowenig an medizinische Lehrbücher, wie die Natur bereit ist sich – selbst den seriösesten – Studien zu unterwerfen.
Ich frage mich, ob die Heerschaft der „studiengläubigen“ Mediziner von dem überzeugt ist, was sie predigt und den Patienten empfiehlt?
Was können Studien aussagen?
Unmengen von medizinischen Daten werden zusammengetragen, in Studien eingearbeitet und veröffentlicht. Das Ergebnis sind Wahrscheinlichkeiten, signifikante Abweichungen und sonstige statistische Aussagen. Nehmen wir 2 Beispiele: (Aussage A) statistisch gesehen kommt es nur „ganz selten“ vor, dass jemand an X erkrankt. Ich frage mich, was nützt das dem Patient, der doch an X erkrankt ist? Oder (Aussage B) unter einer bestimmten Therapie steigt die Lebenserwartung um Y Monate. Wo kann der Patient jetzt diese Aussage einfordern, wenn er nicht von der vorhergesagten höheren Lebenserwartung profitieren konnte, weil bei ihm zum Beispiel eine andere Krankheit hinzugekommen war?
Die Praxis der EBM (evidence based medicine) bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz an systematischer Forschung. (Quelle: www.ebm-netzwerk.de/was-ist-ebm/leitartikel-sackett). Individuelle klinische Expertise heißt verkürzt gesagt: Das Können und die Erfahrung des Arztes sowie Berücksichtigung der besonderen Situation und nicht zuletzt die Wünsche von Patienten. Die beste verfügbare externe Evidenz – damit sind Studien gemeint. In diesen Studien ist der heute zu behandelnde Kranke nur insoweit berücksichtigt, als seinerzeit ein Mensch mit ähnlichem Krankheitsbild in eine Studie eingeschlossen oder ausgeschlossen war. Ob aber der nun kranke Körper genauso auf die Therapie reagiert, wie die Mehrzahl der damals untersuchten Probanden, das steht in den Sternen. EBM bedeutet also, dass der Arzt seine Behandlung am Wunsch des Patienten, an seiner klinischen Erfahrung und an seinem Wissen ausrichtet, das auch jüngste, anerkannte Erkenntnisse beinhaltet. Und zwar in der eben beschriebenen Reihenfolge, weil Patientenautonomie (der Wunsch des Patienten) die (Be)Handlungsgrenze des Arztes bestimmt. Weil der Patient auf die Kompetenz des aufgesuchten Arztes vertraut und weil externe Evidenz in der Arzt-Patienten-Beziehung auch tatsächlich nur von nachrangiger Bedeutung ist.
Nur dort „wo es keine Evidenz gibt, ist die individuelle Entscheidung des behandelnden Arztes zulässig.“ Das heißt im Umkehrschluss, wo es Evidenz gibt, muss danach behandelt werden, ungeachtet ob das für den heute zu behandelnden Patient das Beste ist, ob Behandlung nach den geltenden Leitlinien dem individuellen Patientenwillen entspricht oder ob die evidenzbasierte Behandlungsmethode oder Behandlungsart sich mit der individuellen Erfahrung des behandelnden Arztes deckt. Deshalb finden Kranke heute bei einem Arzt immer seltener Rat, Verständnis, Zuwendung, Trost, Hoffnung, Hilfe und Heilung.
Heute bekommt jeder die gleiche, standardisierte Therapie, die ein Arzt nach externer Evidenz und gemäß den geltenden Leitlinien zu ergreifen hat. Tut er das nicht, kann er (von Angehörigen, von Pflegepersonal oder vom Kollegen) angezeigt werden und er wird sich wohl vor einem Richter zu verantworten haben, dem Entscheidungsgrundlagen von Medizinern geliefert werden, die zwar das Credo der EBM beten, aber eigentlich nur externe Evidenz meinen.
Der Patient kann heute Studienergebnisse sogar selbst ergoogeln, er kann sich aber auch nur an „google“ wenden, wenn er nach Leitlinien behandelt wurde, und sich trotzdem ein anderes Ergebnis einstellte als erwartet war.
Tipp: Solange jemand noch gesund ist, sollte er zusätzlich zur Patientenverfügung dem Arzt seines Vertrauens sagen, wie er in bestimmten Situationen behandelt werden will. Gemeint ist nicht, dem Behandler vorzugeben, welche Therapie er anzuwenden hat, sondern dass der Patient frühzeitig deklariert, ob er mit „Machbarkeitsmedizin“ am Leben erhalten werden will oder ob er palliativmedizinisch begleitet werden möchte.